18.11.2024 13:40

Eleonore Dupuis Erzählungen - Reise nach Russland / 1. - 18. Oktober 24

Wo soll ich anfangen, wie in Kürze beschreiben, was ich alles an Wunderbaren bei dieser Russlandreise erlebt habe?

Allein die Hinreise ist seit 2 ½ Jahren ein Abenteuer für sich und dauert mindestens 12 - 20 Stunden. Ich flog diesmal über Baku nach Moskau. Kam mitten in der Nacht am Airport Domodedovo an. Glücklicherweise habe ich überall gute Freunde. So auch in der Stadt Domodedovo. Kurz geschlafen, am Vormittag mit Sergeij zur Bank, denn ich hatte Geld mit von österreichischen Russenkindern für ihre Verwandten in Russland, und russische SIM-card kaufen. Dann gleich weiter nach Tjumen – aber über einen anderen Moskauer Flughafen. Warum Tjumen in Sibirien? Natalia Spiridonova, die Produzentin des Films «Я найду тебя, отец» (Vater, ich finde dich) lud mich ein. Sowohl nach Tjumen als auch nach Jekaterinburg, wo der Film beim Festival des historischen Dokumentarfilms gezeigt wurde.

Von Domodedovo zum Flughafen Vnukovo muss man allerdings zuerst mit der Elektritschka (Bahn) nach Moskau hinein, dann mit der Metro zweimal umsteigen bis zum Flughafen. Dort angekommen, sah ich auf der Anzeigentafel, dass der Flug zwei Stunden Verspätung hatte! Also saß ich dort viele Stunden bis wir endlich um 23:30 abflogen. Ankunft in Tjumen um 4:15 frühmorgens  (Zeitverschiebung +zwei Stunden), auch hier holte mich ein netter Student ab und brachte mich ins Hotel. Inzwischen war es 5:15. Erst gegen 6 Uhr früh schlief ich ein, musste aber vor 8 Uhr aufstehen, mich fertig machen, Beim Frühstück traf ich Natalia und ihren Sohn. Um 9 Uhr war Abfahrt zum Veranstaltungsort.

An diesem Tag sahen wir zwei Filme, ich musste aber kämpfen, damit mir die Augen nicht zufallen. Am Nachmittag schwänzten wir den Film und erholten uns ein wenig. Unser Film wurde zum Glück erst am nächsten Tag gezeigt. Der Kinosaal war voll von jungen Menschen, Studenten der Universität. Vor dem Film ein Interview. Nach dem Film teilten wir einige Exemplare meines Buches aus, alle wollten eine Widmung, umarmten mich, waren sehr berührt von meiner Geschichte. Mich wiederum freute besonders, dass junge Leute mit diesem Thema bekannt wurden. Ich appellierte an sie, meine Vatersuche zu verbreiten, man weiß ja nie. In 80 Jahren können Menschen auch nach Sibirien umgezogen sein.

Am nächsten Abend fuhren Natalia, ihr Sohn und ich mit dem Zug nach Jekaterinburg. Wieder war es fast Mitternacht, als wir im Hotel ankamen, doch jetzt war ich schon ausgeschlafen. Gleich am nächsten Morgen gingen wir zum Dom Kino, wo das Festival bereits den 6. Tag dauerte. Natalia staunte sehr, als in der Eingangshalle bereits zwei Männer auf mich warteten. Ich hatte Sergeij Lipachov und Dima Kropachev eingeladen zu kommen. Sergeij aus Asbest kenne ich seit 2007, er hat sehr viel bei der Vatersuche mitgeholfen. Dima wiederum ist der Sohn der inzwischen leider an Covid verstorbenen Valentina aus Beresniki, die fest glaubte sie wäre meine Schwester. Ein DNA-Test hat das aber widerlegt.

An diesem letzten Festivaltag wurden nur zwei Filme gezeigt. Im großen Kinosaal war zahlreiches Publikum, darunter wieder viele junge Menschen. Unserer war der Erste. Nach dem zweiten Film gab es eine Diskussion. Wir mussten auf die Bühne. Inzwischen war es mir schon egal, vor dem Publikum holpriges Russisch mit Fehlern zu sprechen.

Die Preisverteilung war für 17 Uhr angesetzt. Im Laufe dieser Woche wurden über 50 Filme gezeigt. Natalia warnte mich noch, ich solle nicht enttäuscht sein, wenn wir keine Auszeichnung bekommen, da so viele hervorragende Filme gezeigt wurden. Doch ich hatte mir sowieso keinen Preis erwartet. Plötzlich wurde unser Film aufgerufen! Alle drei gingen wir auf die Bühne. Die Moderatorin, welche die Preise übergab staunte sehr, dass wir persönlich da waren (viele andere Preisträger waren nicht zugegen). Und umso mehr, dass die Hauptdarstellerin aus Österreich anwesend war! Ich hielt das Diplom für den Regisseur in Händen, während Natalia eine Vase bekam. Nachher wollte sie mir diese unbedingt geben. Ich bat Natalia inständig, die Vase zu behalten. In Russland ist es beleidigend, ein Geschenk nicht anzunehmen. Doch mein Koffer war sowieso so voll und schwer, ich konnte nicht mehr.

Am nächsten Morgen auf zum Flughafen. Da kam Tatjana, die Moderatorin von gestern, in die Hotellobby und brachte mir ein wunderschönes Seidentuch mit russischen Motiven. Auch ihr Mann, Stanislav, war dabei. Das Seidentuch konnte ich annehmen, es war federleicht. Sie führten mich mit dem Taxi zum Flughafen! Wieder zwei neue Freunde gewonnen. In Tjumen waren es vier neue Kontakte!

Landung am Moskauer Airport Scheremetjewo. Das war jetzt schon der dritte Flughafen in Moskau. Doch dort kenne ich mich aus. Aeroexpress zur Metrostation Bjelorusskaia, dann drei Stationen bis Komsomolskaia, über Stiegen und eine holprige Straße zum Leningradskij Bahnhof. Ein Ticket nach Twer kaufen und schnell mit dem ganzen Gepäck zum Zug laufen. Ich erwischte ihn gerade noch. Ein Glück, denn ich wurde am Bahnhof von Twer von meiner lieben Freundin Lena erwartet. Bisher war mir immer viel zu heiß im Wintermantel, das schwere Gepäck, Beeilung. In den Zügen, am Airport, im Flugzeug, überall war geheizt. Doch in Twer war es ziemlich kühl. In den Wohnungen noch keine Heizung. Die meisten Menschen haben Fernheizung, und die wird allgemein gebietsweise eingeschaltet.

Nicht nur Lena erwartete mich, auch Olga von der Bibliothek. Sie war die Organisatorin meiner ganzen Woche in Twer. Dann kam noch Katja dazu, sie fuhr uns mit dem Auto heim zu Lena, denn es regnete leicht.

Am nächsten Tag fand die erste Filmvorführung in der großen Gorki-Bibliothek statt. Viele Jugendliche, auch Schüler sahen den Film und waren von unserer Geschichte berührt, ähnlich wie in Tjumen. Das lokale Fernsehen und der Sender Rossia 1 schickten junge Journalisten, die mich interviewten. Es folgte eine Führung durch die Bibliothek mit Olga. Ich konnte nur staunen, wie viele Abteilungen, wie viele Lesesäle, unglaublich viel Material für alle Sparten. Es gibt praktisch alles dort. Das historische Gebäude ist auch sehr schön und eindrucksvoll.

Eine große Schule für mehr als 2000 Schüler am Stadtrand war der Veranstaltungsort für die zweite Filmvorführung am nächsten Tag. Viele Schulen haben eine Art Museum, eine Gedenkstätte an den 2. Weltkrieg. In diesem großen Saal wurde unser Film den Schülern der höheren Klassen gezeigt.  Ein Teil erschien in der Uniform ihrer jeweiligen Ausbildung, z.B. für verschiedene Berufe in der Luftfahrt, zum Militär oder Feuerwehr und Katastropheneinsatz. Ähnliches Bild wie am Vortag. Die jungen Menschen umringten mich, stellten Fragen, zeigten ihr Interesse. Ich war sehr froh und wiederholte meinen Appell, die Vatersuche zu verbreiten.

In den nächsten Tagen zeigten mir Olga und Katja verschiedene kleine, aber außergewöhnliche Museen in Twer. Überall erzählte Olga den Museumsführern oder Leitern in Kürze meine Geschichte. In einem der Museen bot man mir an, ich solle kurz über meine Vatersuche schreiben, sie werden es samt Foto von mir im Museum aufhängen und die Besucher darauf aufmerksam machen.

Am Ende der Woche machte mich Juri, einer meiner Suchhelfer, mit Ljudmila, der Senatorin des Gebiets Twer, bekannt. Wir trafen uns in der Wohnung von Lena und saßen um den winzigen Küchentisch. Das ist traditionell typisch in Russland. Sie erschien mir sehr freundlich, herzlich und ehrlich in ihrem Versprechen alles in ihrer Macht Stehende für mich zu tun.

Am Nachmittag stand ein Runder Tisch in der Bibliothek am Programm. Ca. 10 Experten überlegten neue Ideen der Suche. Obwohl ich dachte, wir haben ohnehin schon alles versucht, gab es überraschenderweise noch neue Vorschläge. Alle diese Leute sind so bemüht, mir bei der Vatersuche zu helfen! Es ist so berührend, ich schulde ihnen großen Dank.

In Twer war es kalt geworden, nun brauchte ich alle meine Wintersachen! Für die letzten Tage meiner Reise fuhr ich nach Moskau, zu meinen lieben alten Freunden, wo ich immer wohnte. Nur dass nun Tatjana, meine allerliebste und allererste Freundin in Moskau, nicht mehr da war. Sie verstarb vor zwei Jahren, knapp zwei Monate nach meinem Besuch im Jahr 2022. Ich hatte ein wenig Angst vor dem ersten Treffen seit ihrem Tod mit ihrer Familie. Doch umsonst. Sie hatten so lange und so intensiv um sie getrauert, dass sie einfach nur froh waren, mich wiederzusehen. Ich wurde herzlich aufgenommen.

Wenn ich dachte, ich verbringe die letzten Tage in Moskau geruhsam, weit gefehlt! Jeden Tag ein Treffen oder mehrere. Allen voran wollte ich Jurij Eltekov wieder sehen. Jahrelang hatte ich nichts mehr von ihm gehört. So vermutete ich, er wäre nicht mehr am Leben. Beim letzten Treffen 2018 war er 95. Als mir Natalia Spiridonova versicherte, er wäre am Leben und 101 Jahre alt, ließ ich mir sofort die Telefonnummer seiner Frau Nina geben. Sie meinte, sie freue sich auf meinen Besuch. Warum sie mich nicht kontaktiert hat all diese Jahre, verstand ich nicht. Und Juri konnte anscheinend nicht mehr mails oder das Telefon beantworten. Jedenfalls freute er sich sehr über meinen Besuch. Für dieses hohe Alter war er noch erstaunlich gut beisammen.

Ein anderes Treffen war mit der Großnichte von Erwin, ein Befreiungskind wie ich. Sie übergab mir für ihn Fotos von seiner Familie in Saratov.

Einmal fuhr ich den weiten Weg (ca. 1 ½ Stunden mit Metro und Bahn) nach Podolsk. Ich wollte unbedingt den Mann aus Novosibirsk treffen, der intensiv die Spur meines Vaters im Zentralarchiv suchte. Bei grausigem Wetter, Schneeregen und kalt wartete ich lange beim Bahnhofsausgang. Als er schließlich kam, hatten wir nur wenig Zeit zum Plaudern. Er musste noch den letzten Bus zu seiner Unterkunft erwischen. Aber ich war froh und mir war die lange Fahrt wert, diesen wunderbaren Menschen persönlich kennengelernt zu haben. Er ist sich sicher, meinen Vater zu finden, wenn nicht dieses Jahr, so nächstes. Jedes Jahr verbringt er einen Monat in Moskau für seine Nachforschungen.

Ein Besuch galt meinem russischen Verleger Andreij Sorokin im Archiv für sozio-politische Geschichte. Er hatte ja freundlicherweise je 12 Bücher nach Tjumen und nach Twer geschickt.

Ein weiterer Höhepunkt war die Einladung der Senatorin Ljudmila Skakovskaia in den Sowjet Federazii (Rat der Föderation), wo alle 98 Gebiete Russlands vertreten sind. Das ist ein riesengroßes Gebäude im Zentrum, außen eher unscheinbar, doch innen wie ein Palast. Nicht einfach, dort hineinzukommen. Ich war eine Privilegierte, mit Einladung. Trotzdem waren die Kontrollen sehr streng. Ljudmilas Sekretär führte mich zu ihrem Büro. Sie wiederholte ihr Engagement in meinem Fall. Dann wollte sie mit mir eine Fotosession machen, an den wichtigsten und schönsten Orten dieses Gebäudes. Z.B. ein Luster in Form eines Eiszapfens, der über sechs Stockwerke reicht.

Der Abend des Abflugs kam. Überraschend teilte mir Vitalij Semionov, Historiker und Genealoge mit,  er wird mich abholen und mich zum Flughafen begleiten. Ich glaubte schon, ich werde ihn diesmal nicht sehen, er war die ganze Zeit auf Reisen. Ich freute mich natürlich sehr. Auch war er eine große Hilfe mit dem Gepäck in der Metro und beim Umsteigen.

Sogar am Flughafen erwarteten mich noch Bekannte! Und zwar die Verwandten von Monika (auch ein österreichisches Russenkind). Zufällig war es Vitalij, der ihren Vater und die Verwandten fand. Freudige Begrüßung! Mit den drei Nichten von Monika und Denis, dem Mann einer der Nichten, verbrachte ich noch eine angenehme und fröhliche Stunde bis zum Boarding. Sie gaben mir ein Geschenk für Monika mit.

Somit bin ich nicht nur die Vatersuchende, sondern auch das Bindeglied zwischen den Russenkindern in Österreich und ihren Verwandten in Russland. Und drittens – nicht weniger wichtig: ich möchte den Menschen in Russland sagen und zeigen, dass nicht alle in Österreich und in der EU russlandfeindlich eingestellt sind.

Die Rückreise erfolgte über dieselbe Strecke wie die Hinreise. Auf der Strecke Moskau – Baku saß ich neben einem freundlichen Ehepaar aus Twer! In Baku neuerliche Überraschung! Beim Boarding nach Wien traf ich Anja, eine Moskauer Studentin, die in Wien studiert. Sie war auf der Rückreise von einem Besuch bei ihren Eltern. Wir sind seit einem Jahr bekannt. Ein weiterer kurioser Zufall: in Tjumen fragte mich ein Herr beim gemeinsamen Mittagessen, ob ich Anja kenne, weil er wusste, dass ich aus Wien bin. Er war ihr Professor in Moskau!

 

So ging eine wunderschöne, ereignisreiche und interessante Reise zu Ende.

Eleonore Dupuis                                                                                                                             10. November 2024

 

 

 

 

 

 

 

 

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